Von der Krim nach Kleinbeucha

Das alte Schild, angefertigt von A. Römer aus Kitzscher
Das alte Schild, angefertigt von A. Römer aus Kitzscher

Erschienen in ZENITH, Zeitschrift für den Orient, 23.5.2013

 

Tataren in Sachsen

Von der Krim nach Kleinbeucha

Anja Hotopp und Mieste Hotopp-Riecke

 

Schüler, Akademiker und Heimatforscher kümmern sich in Sachsen um Napoleon, muslimische Soldaten und ein Tatarengrab von 1813. Dabei dreht sich vieles, doch nicht alles, um die Frage: Für wen kämpfte Jussuf?

 

»Sehen die Leute immer so aus«, fragt die 14-jährige Khadja und zeigt möglichst unauffällig in Richtung eines Pärchens, das in ein grün rotes Filzgewand in Marketender-Tradition aus Napoleons Zeiten gekleidet ist. »Ja«, mischt sich ihre Freundin Isam ein, »warum sehen die so aus. Ist denen das nicht peinlich?« Historiker Stefan Theilig klärt die Mädchen aus Leipzig auf: »So waren die Leute zu Zeiten der Napoleonischen Kriege vor 200 Jahren gekleidet.« Die Farben rot, grün und weiß waren die sächsischen Herrscherfarben und spiegelten sich in den Trachten wieder. Ähnlich wie die Fußballtrikots verschiedener Mannschaften heute waren sie ein Erkennungs- und Zuordnungsmerkmal. »Die Frau trägt das anlässlich der Veranstaltung an diesem Wochenende.«

 

Der Krieg gegen Napoleons Grande Armée gipfelte in der Völkerschlacht, die mittlerweile 200 Jahre zurück liegt und an die das monumentale Denkmal in Leipzig erinnert. Doch es gibt auch andere, weniger protzige Zeugnisse, die die damalige Zeit widerspiegeln. Eine Zeit, in der auf allen Seiten der Kombattanten muslimische Tataren und Baschkiren sowie buddhistische Kalmücken neben Preußen, Polen und Russen gegen die napoleonischen Truppen mit ihren sächsischen Verbündeten kämpften. Allein vier krimtatarische Reiterpulks, etwa 4.000 Kavalleristen, und über zehntausend Baschkiren und Wolga-Tataren nahmen an den Kämpfen teil.

 

In Kleinbeucha bei Leipzig zeugt die Inschrift »Jussuf, der Sohn des Mustafa« auf dem so genannten Tatarengrab von dieser wenig beachteten Facette der Völkerschlacht. Seit 200 Jahren schon wird dieses Grab von Menschen in und um Kleinbeucha gepflegt und so regionale Geschichte lebendig erhalten.

 

Tausende Tataren und Baschkiren in den Divisionen Frankreichs, Russlands, Preußens und Polens

Wer aber war nun dieser Jussuf? Das herauszufinden war Anlass eines interdisziplinären Projekts mit Wissenschaftlern, engagierten sächsischen Nachbarn und Schülern unterschiedlichster Herkunftsländer und kultureller Hintergründe, die in und um Leipzig leben. Ein dutzend Wissenschaftler – Historiker, Turkologen, Pädagogen – aus Deutschland, Tatarstan, Litauen und der Ukraine waren im April 2013 in Borna bei Leipzig zusammen gekommen. Das gemeinsame Symposium war der Höhepunkt des dreimonatigen Projekts, das die Frage nach der Identität des muslimischen Offiziers aus dem Osten zu klären suchte. Doch dies stellte sich komplizierter heraus als gedacht, denn auch in sogenannten Kosaken-Regimentern dienten Muslime und nicht jede Einheit war ethnisch homogen: Hilfsheere wurden nicht nach christlicher, buddhistischer oder muslimischer Herkunft akquiriert, sondern nach Bedarf und Region eingezogen, eingekauft oder erobert.

 

Doch das vom Institut für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan Studien (ICATAT) und dem Heimatverein Bornaer Land e.V. initiierte Symposium hatte nicht nur zum Ziel, die näheren Umstände seines Todes zu klären. Vielmehr war der 200. Todestag von Jussuf Anlass, sich generell mit deutsch-muslimischen Interkulturkontakten in Vergangenheit und Gegenwart zu beschäftigen. Neben der historischen Rolle der tausenden Tataren und Baschkiren, die auf den Seiten Frankreichs, Russlands, Preußens und Polens in den napoleonischen Kriegen kämpften, ging es um auch um die Erinnerungskultur der Tataren, die Rolle der Krimtataren als letzter europäisch-islamischer Großmacht oder xenophobe Tatarenstereotypen in Schulbüchern.

 

Auch für die Bevölkerung von Kleinbeucha, die seit Jahrzehnten zum Entspannen oder zum Rendezvous »zum Jussuf geht«, war das Zusammentreffen internationaler Wissenschaftler, lokaler Heimatforscher und Vertreter der polnisch-litauischen Tataren, der Wolga- und der Krim-Tataren ein besonderes Schauspiel.

 

In Leipzig wurden schon im 16. Jahrhundert tatarische Texte gedruckt

Die in Marketender-Tracht gekleidete Frau vom »Königlich-Sächsischen Chevauleger-Regiment Prinz Clement« legte nach dem Gebet in arabischer und krimtatarischer Sprache Blumen am Grab nieder, das so lange schon gepflegt, erneuert und in Erinnerung gehalten wird. Die beiden Schulmädchen nutzen die Gelegenheit und suchen das Gespräch mit der Frau, die aus heutiger Sicht ungewöhnliche Kleidung trägt, und die sie nun schon den zweiten Tag beobachten. »Tragen sie das immer?« »Nein, damit zeige ich, wie die Frauen einst aussahen, wie die Leute lebten, was sie kochten, arbeiteten und eben wie sie sich kleideten.« Diese Uniform zeichnete sie als Marketenderin aus und berechtigte die damaligen Trägerinnen, sich im Kriegslager aufzuhalten, um Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände zu verkaufen. Denn die hunderttausenden einfachen Soldaten mussten verpflegt werden.   

 

Auch über die orientalische Kleidung der anderen Muslime in den damaligen Armeen wurde angeregt diskutiert, zum Beispiel über Rüstäm, den kaukasisch-ägyptischen Leibmameluken Napoleons. Neben diesen mamlukisch-muslimischen Soldaten dienten auch Tataren aus Polen-Litauen in der Napoleonischen Kaisergarde.

 

Die Jugendlichen, die in Leipzig, Kitzscher und Borna zur Schule gehen, sind moderne Pfadfinder auf historischen Pfaden. »Das hatten wir im Geschichtsunterricht gar nicht«, sagt die 16-jährige Julia. Den Alltag dieser bunten Schar von Kämpfern mit unterschiedlichen Religionen, Herkunftsländern, Sitten und Bräuchen nahezubringen, darum geht es auch Adas Jakubauskas aus Vilnius, Historiker und Vorsitzender der islamisch-tatarischen Gemeinden Litauens. Er berichtet den Mädchen und Jungs von seinen Erfahrungen auf der Pilgerreise nach Mekka und von den Begräbnisritualen in seiner Heimat: Auch bei den Tataren Polens und Litauens werde Wasser verspritzt und Almosen an die Kinder vergeben, genau wie bei Jussuf hier in Sachsen vor 200 Jahren.

 

Interkulturelle Geschichte in einen regionalen Kontext zu setzen, dafür sei das Tatarengrab von Kleinbeucha wie geschaffen, findet Marat Gibatdinov. Als Historiker an der tatarischen Akademie der Wissenschaften in Kasan kenne er das Grab schon seit Langem und versucht auch in seiner Heimat ein Bewusstsein für das tatarische Erbe in Mitteleuropa zu schaffen. Doch dies nicht allein mit militärhistorischen Fakten, schließlich sei der erste tatarische Text außerhalb tatarischer Siedlungsgebiete bereits 1593 gedruckt worden: Vom späteren Leipziger Universitätsprofessor Hieronymus Megiser.

 

Kulturkontakte seit den 1430er Jahren

In vergleichenden Studien zur Begräbniskultur und zur verwendeten Lexik auf dem Grabstein von Jussuf kamen die Konferenzteilnehmer zum Schluss, dass der Offizier ein Lipka-Tatare, also ein Tatare aus Polen-Litauen gewesen sein muss. Sowohl das polnische Wort »roku« für Todesjahr als auch das Begräbnisritual stünden für eine baltische Abkunft, so Prof. Jakubauskas. Aber auch der Hinweis in sächsischen Quellen, dass das Grab noch 25 Jahre lang von Verwandten gepflegt wurde, sei ein Indiz hierfür: Aus dem Wolga-Ural-Gebiet wäre wohl kaum Verwandtschaft oder der Krim zur Pflege angereist, aus Trakai, Vilnius oder den Masuren schon eher.

 

Um diese Fragen abschließend zu untersuchen, wurde als Ergebnis der Tagung eine internationale Forschungsgruppe »Interkulturgeschichte Germaniae Tatarica« gegründet. Nach der endgültigen Erforschung der Tatarengrab-Geschichte solle sich diese Akademiker-Gruppe weiteren deutsch-tatarischen Themen und deren Verwendung in Bildungsprojekten zuwenden, so Stephan Theilig vom ICATAT Berlin. Denn bereits lange vorher, seit den 1430er Jahren bis in das 21. Jahrhundert hinein, habe es tatarisch-deutsche Kontakte in Diplomatie, Wissenschaft und Kultur gegeben.

 

Welche Bedeutung auch die Alltagsgeschichte für die jugendlichen Projektteilnehmer hat, wurde am Beispiel der Kleidung und der Essgewohnheiten diskutiert. Auffällig seien damals die Filzbekleidung der Baschkiren und die selbstgefertigten Pfeile, Lanzen und Bögen der Tataren gewesen. Im Tross der zehntausenden Kämpfer liefen auch Frauen und Knappen mit, die kochten, wuschen und Verwundete versorgten. Energiereiches Essen wie Schischlik (unser Schaschlik stammt daher), Brühe und Hammelpilav (Reistopf) war unerlässlich. Eine tatarische Spezialität konnte auch in Borna probiert werden: Die Gäste hatten »Tschäk-Tschäk« mitgebracht, in Honig eingelegte Mürbeteigkringel, denn auch heute gehe nicht nur Liebe sondern auch Völkerverständigung durch den Magen, ist Timur Kurshutov überzeugt.

 

 

Für wen kämpfte Jusuf? 200 Jahre Völkerschlacht Leipzig - 200 Jahre Tatarengrab Kleinbeucha. Interkulturgeschichte im regionalen Kontext

Hier eine wissenschaftliche Rezension vom Akademiker-Portal H-Soz-U-Kult  

 

Veranstalter: Institute for Caucasica-, Tatarica- and Turkestan Studies Magdeburg – Berlin (ICATAT); Zentrum für Regional- und Kulturhistorische Forschung des Heimatvereins des Bornaer Landes e.V.; in Kooperation mit dem Zentrum für Europäische & Orientalische Kultur (ZEOK), Leipzig
Datum, Ort: 06.04.2013-07.04.2013, Borna

Bericht von:
Stephan Theilig / Mieste Hotopp-Riecke, Institute for Caucasica-, Tatarica- and Turkestan Studies, Magdeburg / Berlin
E-Mail: <stephan-theilig@web.de>; <icatat@gmx.de>

Es ist etwas besonderes, wenn nach 200 Jahren internationale Wissenschaftler, lokale Heimatkundler und sächsische Nachbarn gemeinsam mit Vertretern der litauischen Lipka-Tataren, der Wolga-Tataren und sogar dem Außenbauftragten des Nationalparlaments der Krim-Tataren an einem kleinen aber besonderen Grab in Kleinbeucha bei Leipzig stehen, der Al-Fatiha lauschen und einem Toten-Gebet beiwohnen. Dies war der Höhepunkt einer Exkursion, die ein internationales Symposium sowie einen Jugend-Geschichtstag im Stadtkulturhaus von Borna abschlossen. Das Symposium war der Auftakt zu den diesjährigen Veranstaltungen anlässlich des 200. Jahrestages der Völkerschlacht von Leipzig. Im Zuge dieser Schlacht kämpften auf allen Seiten der Kombattanten Muslime, meist Tataren, aber auch Baschkiren, Kirgisen, Kasachen und buddhistische Kalmüken. Einer der Tatarenoffiziere war „Jusuf, der Sohn des Mustafa“, so die Grabaufschrift in Kleinbeucha. Seit seinem Tod kümmerten sich die Bürger von Kleinbeucha um das Grab; keine Selbstverständlichkeit, wie von den anwesenden Tataren dankend hervorgehoben wurde.

Das von dem Institute for Caucasica-, Tatarica- and Turkestan Studies (ICATAT) und dem Heimatverein Bornaer Land e.V. initiierte Symposium hatte sich zwei Ziele gesetzt: Einerseits sollten die näheren Umstände seines Todes und der damaligen Geschehnisse geklärt werden, denn bisher gibt es etliche Varianten von Deutungsversuchen, welcher ethnischen Gruppe Jusuf zuzuordnen sei (im Volksmund und Publizistik wurde bisher von Türken, Tataren, Mongolen, Baschkiren und Kosaken fabuliert). Andererseits sollte interdisziplinär beleuchtet werden, welches Potential für interkulturelle Pädagogik, Integrationsarbeit und Migrationsstudien im Kontext von Turkologie, Islamwissenschaft und Geschichtswissenschaft dieses recht einmalige Zeugnis muslimisch-deutscher Beziehungsgeschichte im öffentlichen Raum Sachsens bietet. Ein weiterer Aspekt im 200. Jahr nach der Leipziger Völkerschlacht war auch die historische Würdigung der zehntausenden Tataren und Baschkiren, die auf den Seiten Frankreichs, Russlands, Preußens und Polens in den Befreiungskriegen kämpften, was in der bisherigen Thematisierung der Napoleonischen Kriege nicht im Vordergrund gestanden hat.

Der Grundtenor aller Beiträge lag in der Betonung der Tatsache, dass insbesondere die muslimischen Tataren seit Jahrhunderten einen „Euro-Islam“ entwickelt haben und vertreten, der nicht in Konkurrenz oder Konflikt mit anderen europäischen Religionen und Konfessionen stünde. Dafür spräche allein schon der Grad der Integration und teilweisen Assimilation in die jeweiligen Umgebungskulturen. So „exotisch“ uns heute der Dienst der Tataren, Kirgisen und Baschkiren von damals auch vorkäme, umso „normaler“ sei er doch gewesen und gerade deshalb nicht explizit thematisiert und dokumentiert worden. Überdeckt sei diese Beziehungsgeschichte gemeinsamer muslimisch-buddhistisch-christlicher Einheiten des 19. Jahrhunderts jedoch durch die longue durée negativer Stereotypisierungen vornehmlich der tatarischen Völker, wie MIESTE HOTOPP-RIECKE (Magdeburg) in seinen Ausführungen hervorhob: Seit den Schlachten von Liegnitz/Wahlstatt 1241 hatte zwar bis zur Schlacht von Tannenberg/Grunwald 1410 ein Paradigmenwechsel stattgefunden – bei Liegnitz dschingisidische Heere als Eroberer „ex tartaro“, bei Grunwald die Tataren um Dzhelal ed-Din als Alliierte der katholischen Polen – doch das Negativ-Image der Tataren blieb bis in das 21. Jahrhundert hinein bestehen. Als durchaus positive Beispiele tatarisch-deutscher Interkulturgeschichte können dagegen die Tatarengräber Mitteldeutschlands gelten (Dippoldiswalde, Kleinbeucha, Wünsdorf). Diese Gedächtnisorte seien schon längst positiv konnotiert in die Erinnerungskultur von Tataren und Deutschen eingeflossen, so Hotopp-Riecke. Das jedoch auch ein Distanz-Nähe-Paradoxon vorläge, da beispielsweise die Lipka-Tataren inmitten Polen-Litauens und Preußens noch vor der eigentlichen Existenz beider Territorien lebten und diese friedliche Koexistenz begleitet wurde von Stereotypen gegenüber den Tataren, die eher den klassischen Fremdwahrnehmungskategorisierungen entsprechen würden, unterstrich ADAS JAKUBAUSKAS (Vilnius) in seinem Beitrag. Anhand von Ähnlichkeiten bei der sepulkralen Zeremonie plädierte Jakubauskas eher für eine Lipka-tatarische Herkunft des Jusuf. MARAT GIBATDINOV (Kasan) beschrieb anhand von Textbeispielen ab dem 13. Jahrhundert das Aufkommen und die Verbreitung der „Tatarenangst“ und begründete darüber hinaus die Notwendigkeit wie auch das Potential der Symposiums-Thematik für die interkulturelle Bildungsarbeit. Als Vorsitzender des Geschichtslehrerverbandes und Leiter des Instituts für Entwicklung und Geschichte der Nationalen Bildung an der Akademie der Wissenschaften der Republik Tatarstan beschäftigt sich Gibatdinov seit zwei Jahrzehnten mit dem Implementieren moderner Ansätze deutsch-tatarischer Historiographie in Curricula und Geschichtsbücher.

Von diesen eher ordnenden, jedoch erforderlichen Rahmenvorträgen ausgehend, gingen HELMUT HENTSCHEL (Borna), STEPHAN THEILIG (Berlin) und TEMUR KURSHUTOV (Aqmesit / Simferopol) auf die direkten militär- und ereignishistorischen Fragestellungen in Bezug auf die Völkerschlacht bei Leipzig 1813, das Kriegsgeschehen vor Ort in Borna und Kleinbeucha sowie den Dienst von Muslimen in den Reihen der Kombattanten ein. Hentschel stellte Quellen aus sächsischen Regionalarchiven und das Engagement von Ehrenamtlichen, Lehrern und Schülern rund um das Tatarengrab vor. Theilig beleuchtete Genese und Ausstrahlung der lipka-tatarischen Einheiten insbesondere der französischen Grand Armée und Kurshutov die in der westeuropäischen Historiographie nahezu unbekannten krimtatarischen Reitereinheiten von der Annexion der Krim 1783 bis zu deren Aufösung durch die Bolschewiki 1918. Ein Zwischenresümee, ausgehend von den historischen Befunden der Vorträge, ließ eine erste Hypothese zu, den gefallenen Jusuf, Sohn des Mustafa, hinsichtlich der ethnischen Herkunft als Lipka-Tataren in den Reihen der französisch-litauischen Eskadron einzuordnen.

Doch auch den Bezug auf Konstanten und Brüche die spätere und heutige Geschichts- und Erinnerungspolitik scheuten die Referenten nicht, hier besonders VENERA VAGIZOVA-GERASSIMOV (Berlin) und ALI KHAMZIN (Bachtschisaray). Denn gerade die kulturelle wie auch politische Anerkennung der Tataren, insbesondere die der Krim-Tataren, wurde in der Vergangenheit vielfach durch Diskriminierung und politische Verfolgung torpediert. Referat und Film des tatarischen Regisseurs NÄSSUR YRUSHBAEV (Leipzig) zur Teilnahme von Baschkiren und Tataren an den Napoleonischen Kriegen rundeten das Symposium visuell und thematisch ab.

Es wurden jedoch nicht nur die historischen Fakten und Kontexte von den Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Perspektiven heraus betrachtet, sondern im Rahmen eines parallelen Jugend-Workshops ein Austausch mit Lehrern, Schülern und ehrenamtlichen Heimatforschern initiiert, um über die heutige Zusammenarbeit und das Zusammenleben zwischen Muslimen, Atheisten und Christen zu diskutieren, dies filmisch, fotografisch und als Blog zu dokumentieren sowie jugendliche Migrant_innen zu künstlerischem Umgang mit der Thematik anzuregen.

Die Ergebnisse des Symposiums dokumentieren einen interessanten interdisziplinären Ansatz im Kontext von Regional- und Interkulturgeschichte und werden zeitnah in einem Sammelband publiziert, der in Kooperation mit der Akademie der Wissenschaften Tatarstans und dem Forschungszentrum für Geschichte und Sprache der Krimtataren der KIPU Aqmescit, AR Krim, herausgegeben wird. Die Texte könnten maßgeblich zu einer Neubetrachtung des Verhältnisses und der Rolle des Islam in Europa in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beitragen, denn sie gehen weit über die (westeuropäisch-) eurozentristisch angelegten Euro-Islam-Diskurse hinaus: Ist doch Europa weit mehr als nur die Europäische Union, sondern reicht geografisch bis in den Ural und den Kaukasus sowie kulturgeschichtlich in die lange Tradition von Christentum und Islam.[1]

Konferenzübersicht

Grußworte und Eröffnung
Mieste Hotopp-Riecke (Institute for Caucasica-, Tatarica- and Turkestan Studies, Magdeburg – Berlin)
Hans Ketzer (Volkskundemuseum Whyra)
Steffen Dohrer (Heimatverein des Bornaer Landes e.V., Borna)
Venera Gerassimov-Vagizova (Exekutivkommittee des Weltkongresses der Tataren, Berlin)
Ali Khamzin (Nationalparlament der Krimtataren „Medschlis“, Bachtschisaray)

Panel 1:
Chair: Hans Ketzer

Mieste Hotopp-Riecke: Verblasst die longue durée der negativen Tataren-Images? Zur Rolle der Tatarengräber Mitteldeutschlands als deutsch-tatarischen Erinnerungsorten im öffentlichen Raum

Helmut Hentschel (Heimatverein des Bornaer Landes e.V., Rötha): Zur Geschichte des Tatarengrabes bei Kleinbeucha: Sächsisches Ehrenamt und nachbarschaftliches Engagement seit 200 Jahren

Adas Jakubauskas (Universität Vilinius, Vilnius): Zur Rolle der Tataren in der Geschichte Litauens

Ali Khamzin: Die Krimtataren - Kampf um Selbsterhalt eines europäischen islamischen Volkes

Panel 2
Marat Gibatdinov (Akademie der Wissenschaften der Republik Tatarstan, Kasan): Tatar-German history as a medium of intercultural education

Stephan Theilig (Institute for Caucasica-, Tatarica- and Turkestan Studies, Berlin): Tatarische Reiter Polen-Litauens in europäischen Armeen. Das Jahr 1813 in interkultureller Perspektive

Temur Kurshutov (Universität für Ingenieurswesen und Pädagogik der Krim, Aqmescit / Simferopol): Zur Geschichte der krimtatarischen Eskadrone (Reiterpulks) des Russländischen Imperiums (1784-1918)

Venera Gerassimov-Vagizova: Verbunden durch Geschichte und Gegenwart: Deutsche Gräber in Tatarstan – Tatarische Gräber in Deutschland

Panel 3 – Film-Referat und Abschlußdiskussion

Nässur Yurushbaev (Leipzig): Tataren und Baschkiren in den Napoleonischen Kriegen: Vorurteile, Erinnerungen und Kapriolen beim Entstehen eines Filmes

Exkursion
Besichtigung des Tatarengrabes in Kleinbeucha, des Völkerschlachtdenkmales in Leipzig, der Orthodoxen Kirche sowie des Baschkiren-Gedenksteines in Leipzig

Medien-Geschichts-Workshop mit Jugendlichen
Anja Hotopp (Institute for Caucasica-, Tatarica- and Turkestand Studies, Magdeburg)
Nässur Yurushbaev (Regisseur/Filmemacher/Autor, Leipzig)
Wolf-Dieter Seiwert (Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur e.V., Leipzig)

 

Anmerkung:
[1] Hintergundinformationen zu Symposium und Jugend-Geschichtswerkstatt: <icatat.wordpress.com/2013/02/05/200-jahre-tatarengrab/> und <tatargrave.jimdo.com/> (03.05.2013)